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16. Oktober 2014 – „Zwischen den Welten – Schlaglichter der russlanddeutschen Geschichte“

16. Oktober 2014 – „Zwischen den Welten – Schlaglichter der russlanddeutschen Geschichte“

Vortrag zum Museum Friedland; Kurator Dr. Joachim Baur  
Vortrag zum Museum Friedland; Kurator Dr. Joachim Baur
Fragen aus dem Publikum  
Fragen aus dem Publikum
Podiumsdiskussion  
Podiumsdiskussion

Tagung: Zwischen den Welten: Schlaglichter der russlanddeutschen Geschichte im 20. Jahrhundert

Eine Tagung des Nordost-Instituts (IKGN e.V.) in Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport (Projekt Museum Friedland)


Tagungsbericht von Anja Wilhelmi, Lüneburg:

Tagungsbericht: „Zwischen den Welten: Schlaglichter der russlanddeutschen Geschichte im 20. Jahrhundert", veranstaltet vom Nordost-Institut (IKGN e.V.) 16.10.2014 im Grenzdurchgangslager Friedland, gefördert vom Niedersächsischen Ministerium für Inneres und Sport, mit Unterstützung der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und dem Museum Friedland.

Als das „Tor zur Freiheit" – so wurde das Grenzdurchgangslager Friedland nicht nur von heimkehrenden Kriegsgefangenen nach dem Zweiten Weltkrieg benannt, sondern auch von den Aussiedlern aus der Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten, die hier Erstaufnahme fanden. Diesen geschichtsträchtigen und zugleich heute weiterhin genutzten und gelebten Ort wählten die Veranstalter, das Nordost-Institut (IKGN e.V.) und das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport (Projekt Museum Friedland), um auf einer Tagung, aktuelle Forschungen und Diskurse zu historischen Fragen der Migration von Russlanddeutschen mit Parametern bundesrepublikanischer Flüchtlingspolitik zu diskutieren. Im wahrsten Sinne des Wortes – fassbar - wurden die historischen und soziologischen Ausführungen unter dem Aspekt der musealen „Aufarbeitung" von Flucht, Fluchterinnerungen sowie Ankunft oder Heimkehr an dem konkreten Beispiel des Lagers Friedland. Es muss daher nicht gesondert hervorgehoben werden, welche intensive Ausstrahlung von einem Ort wie diesem auf die ca. 45 Teilnehmer und Teilnehmerinnen und die Veranstaltung selbst ausging.

Die Geschichte der deutschen Bevölkerung in Russland ist eine Geschichte, die stark von der Minderheitenpolitik des russischen Staates strukturiert wurde. Noch im Russischen Reich gelang es den Russlanddeutschen, ihre sprachliche, religiöse und kulturelle Identität zu bewahren. Mit dem Ersten Weltkrieg trat ein Wandel in der Innenpolitik gegenüber der Minderheit ein: Als Angehörige der Feindnation wurden sie der Illoyalität bezichtigt und Deportation sowie Enteignung ausgesetzt. Mit der Machtübernahme der Bolschewiki waren sodann, neben anderen Minderheiten, auch die Deutschen aus grenznahen Gebieten von Zwangskollektivierung, Terror und Deportation betroffen. Viele Deutsche sahen jetzt in der Auswanderung eine Möglichkeit, den staatlichen Repressalien zu entgehen. Auswanderungsbewegungen waren die Folge.

Auf eine dieser Auswanderungswellen ging der erste Referent der Tagung, Victor Dönninghaus (IKGN e.V., Lüneburg), ein. In seinem Beitrag „Lebt wohl, wir scheiden …" Zur Geschichte einer Massenemigration der deutschen Bevölkerung aus der Sowjetunion im Herbst 1929" legte er dar, wie die Unterstützung der deutschen Regierung bei den Auswanderungsbestrebungen gegenteilige Auswirkungen nach sich zog. Im Herbst 1929 hatten sich bis zu 20.000 Menschen auf den Weg in die Hauptstadt aufgemacht, um dort eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Doch weder die Sowjetführung noch die deutsche Botschaft waren auf diese Massenbewegung vorbereitet. Wissend um die prekäre Situation der deutschen Minderheit, hatte die Botschaft bei der Erteilung von

Ausreisegenehmigungen eine Vermittlerrolle übernommen. In Deutschland selbst hatte derweil die Presse über das Schicksal der Russlanddeutschen berichtet und nicht auf Kritik am Sowjetsystem verzichtet. Die Versuche des deutschen Staates, die Kolonisten unter den eigenen Schutzbereich zu stellen, wurden von der Kremlführung als innenpolitische Einmischung verstanden und verstärkten das Interesse an der deutschen Minderheit im eigenen Land. Da die deutschen Migranten, mehrheitlich Mittel- und Kleinbauern, weder in das gängige Schema der „Klassenfeinde" passten, wurden – laut Dönninghaus – nationale Kriterien aufgestellt, um ein kollektives Feindbild der Deutschen in Russland zu konstruieren. Die hohe Zahl der Auswanderer ebenso wie die Hilfsgesuche an den deutschen Staat wurden als Beweise für eine fehlende Loyalität gegenüber der Sowjetunion gewertet. Den Ausreisewilligen wurde die Auswanderung untersagt, man brachte sie zurück in ihre Herkunftsorte und nahm einige in Gewahrsam. Mit seinen Ausführungen belegte der Referent die These, wonach die versuchte Massenemigration von 1929 und die Hilfe des deutschen Staates dazu beitrugen, dass die Russlanddeutschen neuen und an Intensität gestiegenen Repressionen und Sowjetisierungs-Maßnahmen ausgesetzt waren.

Nach Victor Dönninghaus beleuchtete Alfred Eisfeld, ebenfalls als wissenschaftlicher Mitarbeiter am IKGN tätig, den Aspekt der Zwangsmigration von Russlanddeutschen in den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg bis in die Nachkriegszeit in seinem Vortrag unter dem Titel „Deportation, Administrative Umsiedlung, ‚Repatriierung‘, Familienzusammenführung. Die Russlanddeutschen im Kräftespiel der Mächte 1941-1958". Chronologisch an die Ausführungen seines Vorredners anknüpfend, stellte Eisfeld den kausalen Zusammenhang zwischen der Machtergreifung der NSDAP in Deutschland und den Repressalien des Sowjetregimes gegenüber der deutschen Minderheit her. Als weitere Markensteine in der Verfolgungsgeschichte der Russlanddeutschen benannte Eisfeld darüber hinaus den deutsch-sowjetischen Kriegsausbruch im Sommer 1941, in dessen Folge die Deportation aller im europäischen Teil der UdSSR wohnhaften Deutschen nach Sibirien, Kasachstan und Mittelasien einsetzte. Weitere Zwangsumsiedlungen wurden im Verlauf des Krieges durch die deutsche Besatzung mit Ansiedlungen in die jüngst eroberten Gebiete Polens durchgeführt. Als dritte Welle führte der Referent die Zwangsmigrationen nach Kriegsende an, bei der Russlanddeutsche in der Masse der Kriegsgefangenen oder als „Ostarbeiter" in ihnen fremde Gebiete in der Sowjetunion deportiert wurden. Mit der Familienzusammenführungspolitik als Resultat der deutsch-sowjetischen Verhandlungen in den 1950er Jahren schloss Eisfeld seinen detailreichen Vortrag.

Nach diesem ersten Veranstaltungsteil über die Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen wurde in der Mittagspause allen Tagungsteilnehmenden die Möglichkeit geboten, den Spuren aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu folgen. Die „Führung durch das Grenzdurchgangslager Friedland und über den künftigen Museumspfad" vermittelte einen kleinen Ausschnitt der aktuellen Flüchtlingspolitik und wies gleichzeitig auf die Problematik hin, ein museales Konzept innerhalb eines

nicht nur erinnerungsträchtigen, sondern aktiv genutzten Raumes umzusetzen. Die schwierige Aufgabe, diese beiden räumlichen Kräftefelder, unbeschadet und zum Nutzen sowohl der jeweils dort untergebrachten Flüchtlinge als auch im Hinblick eines für das Publikum attraktiven Museums zu schaffen, stellt die wohl größte Herausforderung des vom Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport geförderten Projektes dar.

In dem nachfolgenden Veranstaltungsteil wurden Fragen der aktuellen bundesdeutschen Flüchtlingspolitik von zwei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Forschungszentrums Migration, Integration und Asyl des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Susanne Worbs und Eva Bund, aufgegriffen. Ihr Vortrag „Russlanddeutsche Migranten in der Bundesrepublik: Integration, Akkulturation und Identität" basierte auf einem im vergangenen Jahr veröffentlichten Bericht der Behörde, in dem Erhebungen zu Zuwanderung und Integration von (Spät-) Aussiedlern in der Bundesrepublik zusammengetragen wurden. Die beiden Referentinnen aktualisierten ausgewählte Ergebnisse anhand des Mikrozensus 2012 und neuerer Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Russlanddeutschen. Neben Daten zur Soziodemografie und zur strukturellen Integration der Gruppe, wie den Schul- und Berufsabschlüssen, lag ein besonderer Schwerpunkt des Vortrags auf Fragen der Identitätsbildung.

Nach einer kurzen Pause vertiefte Joachim Baur als Leiter des wissenschaftlichen Aufbauteams seine Ausführungen zu den Planungen des entstehenden Museums Friedland am historischen Ort des Grenzdurchgangslagers, die er zuvor auf der von ihm geleiteten Begehung des Geländes skizziert hatte. Bei seiner Darstellung der inhaltlichen Leitlinien hob er hervor, dass das Museum Friedland als lebendiger Ort historisch-politischer Bildung mit musealem Charakter konzipiert ist. Im Vordergrund steht die Sicherung der Geschichte des Grenzdurchgangslagers Friedland sowie ihre Vermittlung an ein breites Publikum. In Ausstellungen und Programmen sollen die Entstehung des Lagers als Folge des Zweiten Weltkriegs, die Aufnahme von insgesamt über vier Millionen deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen, Kriegsheimkehrern, (Spät-) Aussiedlern und Flüchtlingen aus weltweiten Krisengebieten sowie der Wandel des Grenzdurchgangslagers und seiner Erinnerung im Kontext der gesellschaftlichen Veränderungen seit 1945 beleuchtet werden. Dabei werden die Gesamtgeschichte Friedlands einschließlich der aktuellen Situation problemorientiert und in erweiterter europäischer Perspektive dargestellt. Anhand von Exponaten und Planungsskizzen überzeugte Baur die Tagungsteilnehmenden von dem vielschichtigen und ambitionierten (allein durch die räumliche Vermittlung von gelebter und musealer Geschichte) Konzept des Museums.

„Erinnern, aber wie? Perspektiven einer russlanddeutschen Identität" so der Titel der Podiumsdiskussion. Auf ihr fanden sich unter der Moderation von Joachim Tauber (IKGN Lüneburg) die Leiterin des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold, Katharina Neufeld, Jannis Panagiotidis vom Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien in Osnabrück

(IMIS), die Schriftstellerin Eleonora Hummel aus Dresden sowie der bereits genannte Kurator des Museums Friedland, Joachim Baur aus Berlin, zusammen. In dieser Gesprächsrunde wurden die verschiedenen Formen des Erinnerns in ihrer Vielschichtigkeit diskutiert. Angefangen bei der musealen Umsetzung von Erinnerung, die sich mit politischen und persönlichen Interessen der Betroffenen sowie wissenschaftlichen Forderungen konfrontiert sieht, bis hin zur wissenschaftlichen Annäherung an das Thema.

Auf welche Weise wissenschaftliche Arbeit und Vernetzungen im Bereich der Forschung zu „den Russlanddeutschen" gerade unter dem Aspekt der Migration vom Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien fortgeführt werden, berichtete Jannis Panagiotidis.

Persönliche Erfahrungen im Umgang mit „Fremdsein" oder „Fremdgemachtwerden" konturieren die Perspektiven der „Erlebnisgenerationen" bzw. der Zeitzeugen. Aus diesem Erfahrungspool berichtete die in Zelinograd/Astana geborene und später in die DDR ausgewanderte Schriftstellerin Eleonora Hummel auf illustre Weise. Sie zeigte in ihren biografischen Schilderungen die Schwierigkeiten, ja gar Absurditäten, die sie aufgrund ihrer russlanddeutschen Herkunft in Deutschland erfährt.

Die Tagung endete mit einer intensiven Diskussion, bei der die genannten Erinnerungsformen von und zu den Russlanddeutschen, das Leben „Zwischen den Welten", im Publikum aufgenommen und fortgeführt wurden.

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